
Verstehen durch Vergleichen: Romanische Sprachen im Kontrast
3.5 Phraseologie: Redewendungen und Kollokationen
Die Phraseologie ist seit einigen Jahren verstärkt in den Fokus des romanisch-deutschen Sprachvergleichs gerückt. Aus dem breiten Gegenstandsbereich der Disziplin wurden insbesondere Redewendungen und Kollokationen in den Blick genommen. Diese beiden Typen von Phraseologismen (auch: Phrasemen) werden daher auch im Folgenden im Zentrum der Betrachtung stehen.
Zunächst zu den Redewendungen (Idiomen), d. h. festen, häufig metaphorischen Mehrwortkonstruktionen, deren Gesamtbedeutung nicht aus den Bedeutungen ihrer einzelnen Bestandteile hergeleitet werden kann. Viele Redewendungen im Deutschen und anderen europäischen Sprachen sind bereits sehr alt, wie Wandruszka betont: „Vieles entstammt der antiken, biblischen, christlichen Metaphorik“ (1990: 64). Der gemeinsame Ursprung ist jedoch noch keine Garantie für eine Konvergenz in der Verwendung. Bibelzitate sind in den katholisch geprägten, romanischen Ländern generell seltener als in der deutschen Sprache, die stark von Martin Luthers Bibelübersetzung geprägt ist. Wandruszka zitiert in diesem Kontext eine Passage aus einem Text von Golo Mann, in der eine biblische Redewendung enthalten ist, die nur in der spanischen Übersetzung erhalten blieb:
(1)
dt. Mir war es ‚wie Schuppen von den Augen gefallen‘. –
fr. Mes yeux étaient ouverts. –
it. Mi era ‚caduta la benda dagli occhi‘. („mir war die Binde von den Augen gefallen“) –
sp. A mí „se me cayeron como escamas de los ojos“. (Wandruszka 1990: 66)
In manchen Fällen existieren – ähnlich wie im Wortschatz – auch im Bereich der Redewendungen Scheinentsprechungen, so genannte falsche Freunde (faux amis). Relativ häufig finden sich formale falsche Freunde, d. h. semantische Entsprechungen, die sich in formaler Hinsicht unterscheiden, z. B. im Hinblick auf die grammatische Kategorie Numerus (Singular/Plural) (vgl. García Yebra 1984: 506, Sabban 2016: 303):
(2)
a. dt. das Geld zum Fenster hinauswerfen – fr. jeter l’argent par les fenêtres
b. fr. jeter les yeux sur – sp. poner el ojo en
c. fr. voir d’un bon œil – sp. mirar con buenos ojos
d. dt. ganz Ohr sein – sp. ser todo oídos
e. dt. die Ohren spitzen – sp. aguzar el oído
Für den Fremdsprachenerwerb sind solche Unterschiede keineswegs banal, da – wie die Beispiele zeigen – der Gebrauch des Numerus relativ willkürlich und daher schwer zu systematisieren ist.
Neben formalen existieren auch semantische falsche Freunde, d. h. formal ähnliche Entsprechungen, die sich in semantischer Hinsicht unterscheiden:
(3)
dt. jm einen Floh ins Ohr setzen („jm auf einen Gedanken bringen, der ihn nicht mehr losläßt“) –
fr. mettre à qn la puce à l’oreille („jm mißtrauisch machen“) (Albrecht 2013: 119)
[...]
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Nun zu den Kollokationen. Gemäß Konecny (2013: 137f; mit Verweis auf Hausmann) sollen Kollokationen im Folgenden als „halbfeste“ Lexemkombinationen verstanden werden, die zwischen freien Verbindungen, wie it. leggere un libro („ein Buch lesen“), und festen Redewendungn (wie den oben behandelten) angesiedelt sind, wie z. B. it. accavallare le gambe („die Beine übereinander schlagen“; wörtlich: ‚verpferdern‘). In diesem Beispiel ist das Substantiv gambe die Basis und das Verb accavallare der Kollokator, d. h. ein Wort, das üblicherweise mit der Basis verbunden wird und häufig in übertragener Bedeutung verwendet wird.
Kollokationen sind eine besondere Herausforderung für Lernende einer Fremdsprache, da interlinguale Entsprechungen häufig unvorhersagbar sind. Elmar Schafroth nennt als Beispiel die folgenden italienischen Entsprechungen für deutsche Kollokationen mit dem Kollokator weich:
(5)
pelle morbida (Haut), terreno soffice (Boden), legno terreno (Holz), formaggio molle (Weichkäse), droga leggera (Droge), tratti dolci (Gesichtszüge), moneta debole (Währung), voce delicata (Stimme), uova alla coque [weich gekochtes Ei] (Schafroth 2011: 75; mit Verweis auf Giacoma/Kolb)
[...]
In einigen Fällen deutsch-romanischer Divergenzen erleichtern innerromanische Konvergenzen das Erlernen von Kollokationen in einer weiteren romanischen Sprache (vgl. Pöll 2002: 87):
(7)
fr. prendre une décision – it. prendere una decisione –
sp. tomar una decisión – dt. eine Entscheidung treffen
Sprachliche Divergenzen und somit Schwierigkeiten beim Erlernen von Kollokationen kann es allerdings auch im innerromanischen Vergleich geben. Elena Dal Maso hat z. B. Texte von Lernenden des Spanischen mit italienischer Muttersprache untersucht und bei italienisch-spanischen Kontrasten Kollokationsverstöße festgestellt:
(8)
a. girar un video, statt korrekt: grabar un video („ein Video drehen“)
b. hacer una obra de teatro statt korrekt: poner en escena una obra de teatro („ein Theaterstück inszenieren“)
c. tomar origen, statt korrekt: tener origen („herrühren“) (vgl. Dal Maso 2021: 62)
Bei dem Beispiel (8a) handelt es sich nach Darstellung von Dal Maso (ebd.) um eine negative Transferenz, also eine Interferenz aus dem Italienischen (girare un video), Beispiel (8b) sei ein Indiz für eine mangelnde lexikalische Ausdrucksfähigkeit und bei Beispiel (8c) handele es sich möglicherweise um eine Hyperkorrektion, aufgrund der zahlreichen anderen spanischen Kollokationen mit dem Verb tomar.
Um solchen Problemen zu begegnen, spricht sich Schafroth (2011: 85f) dafür aus, Kollokationen lexikographisch systematischer als bisher zu erfassen, insbesondere in ein- und zweisprachigen Lernwörterbüchern.
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Zum Autor |
Michael Schreiber ist Professor für Französische und Italienische Sprach- und Übersetzungswissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der sprachenpaarbezogenen Übersetzungswissenschaft, im romanisch-deutschen Sprachvergleich und in der Geschichte der Übersetzung. |
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Programmbereich: Romanistik