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Bekannt aus Kunst und Literatur: Orpheus und Eurydike (Foto: matiasdelcarmine – stock.adobe.com)
Auszug aus „Mythos und Mythos-Theorie“

Wie Menschen Mythen erschaffen, wie Mythen Welt erschaffen

ESV-Redaktion Philologie
21.04.2023
Mythen begegnen, wo Menschen versuchen, ihre Erfahrungswelt greifbar zu machen, wo Menschen ordnen und strukturieren, wo sie ihre Welt erklären – schlichtweg überall. Was aber verbirgt sich hinter diesem bei genauerem Hinsehen doch gar nicht so greifbaren Begriff des ‚Mythos‘?
In zwei großen Abschnitten stellen die beiden Autorinnen Stephanie Waldow und Eva Forrester verschiedene Mythos-Theorien von der Antike bis zur Gegenwart sowie eine exemplarische Rezeptionsgeschichte anhand des Orpheus-Mythos vor und reflektieren damit die zeit- und raumübergreifende anthropologische Bedeutsamkeit des Mythos. Das Werk sensibilisiert gleichsam für die begriffliche und funktionale Ambivalenz des Mythos in der Vergangenheit wie die Aktualität der Auseinandersetzung mit Mythen in Gegenwart und Zukunft.

Lesen Sie im Folgenden einen Auszug aus dem neu im Erich Schmidt Verlag erscheinenden Band „Mythos und Mythos-Theorie. Formen und Funktion. Eine Einführung“. Darin wird der von Wandel geprägte Orpheus-Mythos in den Fokus moderner Rezeption, Politisierung und Diskussion von Geschlechterordnungen gerückt.

Ausblick: Zur Aktualität des Orpheus-Mythos

Wenn man davon ausgeht, dass der Mythos als „Muster für die aktuelle Lebenssituation“ (Jamme 1991, 30) gelesen werden kann, stellt sich natürlich die Frage, welche Funktionen der Orpheus-Mythos heute noch übernehmen kann. Was sagt also der Rekurs auf den Orpheus-Mythos, der in der Literatur, im Film (u. a. Helmut Dietl/Patrick Süskind, Vom Suchen und Finden der Liebe, 2005; Alexander Kluge/KHAVN, Orphea, 2020) und neuerdings auch in der Popularmusik (u. a. Hozier, Talk, 2019; Saltatio Mortis, Orpheus, 2011) weiterhin anhält, über unsere aktuelle Lebenswelt aus? Für den deutschen Rapper ORPHEUS, der 2019 den Song Orpheus ist zurück herausgebracht hat, ist der Mythos sogar namensgebend. Und schließlich hat Orpheus auch Einzug in den Bereich der Videospiele gefunden, beispielsweise in Don’t look back von Terry Cavanagh aus dem Jahr 2009.

Die Faszination scheint also ungebrochen, daher gilt es in einem kurzen Ausblick nach Gründen für dieses Interesse zu suchen. Lässt man die Rezeptionsgeschichte des Orpheus-Mythos Revue passieren, fällt auf, dass er nicht nur äußerst wandelbar ist. Anhand des Mythos werden, wie aufgezeigt werden konnte, existenzielle Fragen nach der Liebe, dem Künstlertum, jeglichen Formen der Grenzüberschreitung, dem Umgang mit Tod, Verlust und Trauer oder auch der Fähigkeit, sich zu wandeln und zu erinnern verhandelt. Nicht nur, dass diese Aspekte zu jeder Zeit eine herausgehobene Rolle spielen, sie avancieren im Grunde schon zu anthropologischen Grundkonstanten des Lebens. Darüber hinaus scheinen diese Punkte ganz besonders virulent in einer Zeit, die von Grenzübertritten aller Arten geprägt ist. Nicht nur das Thema Flucht und Migration spielt in aktuellen Orpheus-Bearbeitungen eine herausgehobene Rolle, wie etwa in dem WDR Hörspiel Orpheus in der Oberwelt. Eine Schlepperoper von andcompany&Co von 2019. Hier markiert die Grenze zwischen Ober- und Unterwelt ebenfalls die Grenze zwischen Leben und Tod, aber ganz konkret bezogen auf die Situation der Flucht. Aber auch die Grenze zwischen analoger und digitaler Welt, wie sie in Videogames aufgegriffen wird oder ganz rudimentär die Grenzen zwischen Ich und Anderem, wie sie in Zeiten der Pandemie mehr denn je in den Fokus geraten, eine herausgehobene Rolle spielen. Wie sehr ist das Subjekt dieser Grenze ausgeliefert, wie groß ist sein Begehren, diese zu überschreiten, sein Wunsch nach Kontakt, der in Zeiten der Pandemie ebenso tödlich sein kann, wie Orpheus’ Blick auf Eurydike (beispielhaft in der Performance contactless von Gianna Formicone, 2021).

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Nachgefragt bei Prof. Dr. Stephanie Waldow und Dr. Eva Forrester 21.04.2023
„Der Mythos befasst sich mit konstanten Grundfragen des menschlichen Lebens“
Die Mythen um Orpheus und Eurydike, um Narziss, Ödipus und Ikarus sind den meisten vertraut.  Doch was haben uns Mythen heutzutage noch zu sagen? Mythen sind nicht überholt und kein Gegenentwurf zur rationalen Weltsicht der Moderne. Mythen füllen den Raum, den Wissenschaft nicht erreichen kann: Durch Kunst, Poesie, Moral wird seit jeher eine kreative Möglichkeit der Welterklärung geschaffen. mehr …

Die Politisierung des Mythos im 21. Jahrhundert

Insgesamt lässt sich feststellen, dass wir es im 21. Jahrhundert zunehmend mit einer Politisierung des Mythos zu tun haben, der auch die Frage nach der Künstlerexistenz und nach den ästhetischen Strategien untergeordnet ist. Die künstlerische Ausdrucksform wird vielfach ebenfalls zum politischen Moment erhoben, wie etwa bei Terézia Moras Ungeheuer (2008) die grafische Teilung des Romantextes in einen Ober- und Untertext die Grenzen zwischen oberer Alltagswelt und krisenhafter Unterwelt markiert. Der Akt des Erzählens selbst wird politisiert und anhand dessen werden Formen und Funktionen einer Künstlerexistenz im 21. Jahrhundert diskutiert. Nicht selten wird anhand der Orpheus-Figur der Künstler dem Verdacht der Oberflächlichkeit und Marktförmigkeit ausgesetzt oder zum Archetyp einer krisenhaften Existenz (so in dem Musical Hadestown von Anaiis Mitchell, 2006). Phänomenologie und Wirkung des Künstlerdaseins werden also auch im 21. Jahrhundert anhand des Mythos diskutiert, Ideale kritisch hinterfragt, Entstehungsbedingungen und Marktgesetze ausgelotet. Dass Orpheus als Repräsentant von Kunst und Dichtung weiterhin Bestand hat, daran besteht kein Zweifel (Schmitz-Emans, 2020, 29). Allerdings avanciert diese Auseinandersetzung vielfach zu einem politischen Akt.

Exemplarisch sei hier Sybille Lewitscharoffs Auseinandersetzung mit dem Orpheus-Mythos genannt: Die Brunnenhalle (2018; zuerst 2016 als Hörspiel erschienen) stellt den Herrscher der Unterwelt als bösartigen Despoten dar, der hemmungslosen Machtmissbrauch betreibt. Getarnt als Komödie, erweist sich das Stück als schwarze Tragödie, die die Machtverhältnisse des Hades als Spiegel einer gegenwärtigen Gesellschaft heraufbeschwört. Der Hades gleicht einem undurchsichtigen Unternehmen, in dem jeder Einzelne der Willkür ausgesetzt ist. Macht wird als Spiel betrieben, wobei die Regeln für das Spiel vom Herrscher selbst gemacht und ausgelegt werden.

[…]

Zwar kann Orpheus durch eine Tücke der Unterwelt entkommen, im Versuch Eurydike zu befreien, sieht er sich aber dennoch einem unkontrollierbaren Machtapparat ausgeliefert. Einmal mehr zeigt sich, dass politische Einflussnahme am Staatsgeschehen unmöglich scheint. Selbst mit den eigenen Mitteln ist dem Despoten nicht zu entkommen und so fungiert der Hades hier als Allegorie auf zweifelhafte gesellschaftliche Entwicklungen.

Der Orpheus-Mythos als Auseinandersetzung mit Geschlechtlichkeit

Aber noch etwas anderes ist auffällig: Im 21. Jahrhundert rückt vor allem Eurydike stärker in den Vordergrund. Während sie in den meisten Orpheus-Bearbeitungen stets als schweigende Geliebte thematisiert wird, rückt die Figur in der gegenwärtigen Literatur zunehmend in den Mittelpunkt. Eurydike wird häufig als Opfer patriarchalen Machtmissbrauchs vorgestellt und Orpheus als Moment toxischer Männlichkeit, der Eurydike allenfalls als Muse und Garant für seine eigene männliche Produktivität benutzt (vgl. Theweleit, Orpheus und Eurydike, Buch der Könige, Bd. 1, 1988). Aber bereits hier wird Orpheus in seiner scheinbar kreativen Männlichkeit hinterfragt und die binäre Geschlechterordnung zur Diskussion gestellt. Orpheus wird zum Ausdruck einer Krise der Männlichkeit und Eurydike tritt aus ihrer passiven Rolle heraus und nimmt selbstbestimmt Einfluss auf das Erzählgeschehen. Sie beansprucht letztlich die Deutungshoheit über ihr eigenes Schicksal.

In diesem Kontext ist auch der 2012 entstandene Monolog Schatten. (Eurydike sagt) von Elfriede Jelinek zu sehen, er ist ein fulminantes Zeugnis feministischen Schreibens und nimmt eine radikale Umdeutung des Mythos vor. Gezeigt wird eine wütende und anklagende Eurydike, die sich nicht in ihre Rolle als Schweigende hineinbegibt, sondern um ihr Leben und vor allem um ihre Stimme kämpft.


Zu den Autorinnen
Stephanie Waldow ist Professorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft mit Schwerpunkt Ethik an der Universität Augsburg. Sie hat über den ‚Mythos der reinen Sprache‘ im Kontext von Walter Benjamin, Ernst Cassirer und Hans Blumenberg promoviert und beschäftigt sich neben dem Mythos u. a. mit Fragen der Alterität und dem Zusammenhang von Engagement, Theater und Literatur.

Eva Forrester ist Studiengangskoordinatorin des Elitestudiengangs Ethik der Textkulturen an der FAU Erlangen-Nürnberg. Sie hat zum Thema ‚Mythisches Erzählen bei Hermann Hesse und Thomas Mann‘ promoviert und setzt sich in weiteren Publikationen mit den Forschungsschwerpunkten Mythos und Rationalität, Musik in der Literatur und der literarischen Beziehung zwischen Thomas Mann und Hermann Hesse auseinander.
Mythos und Mythos-Theorie. Formen und Funktionen. Eine Einführung
Von Stephanie Waldow und Eva Forrester

Seit jeher erfinden und überliefern die Menschen Mythen. Sie erzählen sich Geschichten, um Bedrohliches zu bannen, Unverständliches vertraut zu machen, Unerträgliches zu bewältigen oder soziale Normen zu begründen.
Der vorliegende Band bietet einen Überblick über den aktuellen Stand der Forschung und widmet sich sowohl dem Mythos als literarischem Phänomen als auch dem philosophischen und ästhetischen Nachdenken über mythische Erzählungen in Form von Mythos-Theorien. Eine Bestimmung des Mythos ist, so die Konzeption des Bandes, nur von seinen Funktionen her zu leisten, die es historisch aufzuschlüsseln gilt und die unter drei Aspekten beleuchtet werden.
Von seiner Begriffs- und Funktionsgeschichte herkommend wird der Mythos erstens als Denkgewohnheit und zweitens als Erzählform vorgestellt. Daran schließt sich drittens seine Rezeptionsgeschichte an, um seinen vielfältigen Konnotationen gerecht werden zu können. Hier steht der Orpheus-Mythos im Mittelpunkt, da an ihm die enge Verbindung von Literatur, Kunst und Mythos nachvollzogen werden kann.
Das Buch richtet sich insbesondere an Studierende der Literaturwissenschaft und bietet eine aktuelle Auseinandersetzung mit philosophischer Mythos-Theorie in knapper und verständlicher Form.

Programmbereich: Germanistik und Komparatistik