Sie haben folgende Möglichkeiten:
  1. zum Login.
  2. zur Navigation.
  3. zum Inhalt der Seite.

Untersucht Online-Essensdiskurse aus fremdsprachendidaktischer Perspektive: Suzana Vezjak (Foto: Privat)
Nachgefragt bei Dr. Suzana Vezjak

„Den Grad an Aktualität in der Orientierung an der Gegenwartssprache erreicht kein Lehrwerk in dem Maße wie die interaktionale, internetbasierte Kommunikation“

ESV-Redaktion Philologie
12.07.2023
„Echte Männer essen Fleisch“, „Vegane Menschen halten sich für etwas Besseres“ – so oder ähnlich lauten die stereotypen Annahmen, die mit verschiedenen Ernährungsstilen verbunden werden. Im Erich Schmidt Verlag erscheint nun eine „diskurslinguistische Analyse aus fremdsprachendidaktischer Perspektive“, in der „Essensdiskurse online“ untersucht werden. Wir haben mit der Autorin Dr. Suzana Vezjak gesprochen.
Liebe Frau Vezjak, Sie rücken die Untersuchung „dynamischer Praktiken der Identitätsbildung und Beziehungsgestaltung“ im Online-Kontext ins Zentrum Ihrer Forschung. Was verstehen Sie darunter?

Suzana Vezjak: Im Kontext des Sprachenunterrichts bringt die Frage nach der Identität vielerorts normative mentale Modelle der Identitätsbildung zum Vorschein (insb. auch beim Thema Ernährung), die Gemeinsamkeiten mit deterministischen nationalen Identitätskonzepten aufweisen, welche in der Fremdsprachendidaktik nicht (mehr) gewollt sind. Um dieser Problematik zu begegnen, zeige ich mit meiner wissenschaftlichen Studie u. a. auf, dass Identitäten keine starren Gebilde sind, sondern diskursiv hervorgebracht bzw. immer wieder lokal verhandelt werden.
Unter dynamischen Praktiken verstehe ich somit die vom unmittelbaren Kommunikationskontext abhängigen Mittel zur Identitätsbildung und Beziehungsgestaltung, bspw. in Form von (Selbst-)Zuschreibungen und Bewertungen. Es geht also darum, lokal identifizierbare, diskursiv hervorgebrachte Identitäten in einem wertorientierten Online-Diskurs zum Thema fleischalternativer Ernährung zu untersuchen, die die Forenmitglieder aus einem Spektrum an Möglichkeiten auswählen und in verschiedenen medialen Formaten stattfindenden Interaktionen realisieren.
Der interaktive Charakter des Internets erweist sich hierbei als ein idealer Untersuchungsrahmen, da er ein noch nie da gewesenes Potenzial hinsichtlich individueller Darstellungs-, Präsentations- und Kommunikationsmöglichkeiten mit sich bringt und somit vielzählige Möglichkeiten der Identitätskonstruktion und Beziehungsgestaltung bietet.

Wie kamen Sie darauf, Online-Essensdiskurse zu untersuchen?

Suzana Vezjak: Im Mittelpunkt der Sprachausbildung steht die Arbeit an/mit Texten, meistens mit Texten aus Lehrwerken. So interessiert mich, welche Text(sorten) für die Fremdsprachenlernenden relevant sind und wie Texte beschaffen sein sollten, um zur Qualität eines Lehrwerkes und zum effizienteren Fremdsprachenlernen beizutragen. Die Antworten darauf erarbeitete ich zum Teil in meiner Masterarbeit mit dem Thema Gütekriterien für Lehrwerkstexte DaF unter besonderer Berücksichtigung des Faktors Authentizität. Bei den Lehrwerksanalysen fiel mir auch das Thema Essen und Trinken ins Auge, das in keinem DaF/DaZ-Unterricht bzw. -Lehrwerk fehlt.
Den Grad an Aktualität in der Orientierung an der Gegenwartssprache erreicht kein Lehrwerk in dem Maße wie die interaktionale, internetbasierte Kommunikation. Daher beschloss ich, auch die Leserrückmeldungen bzw. Kommentare in die Analysen einzubeziehen und Online-Diskurse zu untersuchen, in denen Essen (kontrovers) diskutiert wird. Hierfür arbeitete ich sprachliche Muster und Strategien heraus und setzte sie in Bezug zu den verschiedenen medialen Formaten und Kommunikationsbedingungen.

Auszug aus: „Essensdiskurse online. Eine diskurslinguistische Analyse aus fremdsprachendidaktischer Perspektive“ 12.07.2023
Essen ist politisch
Sowohl Fleischkonsum als auch fleischalternative Ernährung sind heutzutage kontroverse Themen. Womit identifizieren sich deren Anhängerinnen und Anhänger, wie gestaltet sich die Beziehung zwischen beiden Lagern und welche Erkenntnisse kann die Online-Kommunikation diesbezüglich liefern? mehr …

Weshalb sind die (Online-)Diskussionen beim Thema Essen so aufgeheizt?

Suzana Vezjak: Die emotional aufgeladenen Diskussionen lassen sich meiner Meinung nach erstens damit erklären, dass in Forenbeiträgen zwei charakteristische Eigenschaften stark im Vordergrund stehen: die Intertextualität und die Darstellung persönlicher Meinungen zu individuell relevanten Themen. Geschmack wird dabei als eine persönliche Angelegenheit aufgefasst, denn die geschmacklichen Urteile sind mit ästhetischen, ideologischen und konsumbezogenen Entscheidungen verwoben. Dabei fühlen sich die fest von ihren Ansichten überzeugten Menschen schnell persönlich beleidigt.
Zweitens, so meine These, fühlen sich die Fleischesser/-innen in ihrer Identität angegriffen. Deren Meinung nach dürfen die Fleischlosesser/-innen den Geschmack des Fleisches nicht mögen. Kulturelle Identitäten und soziale Zugehörigkeiten werden vor allem auch mittels einer Vorliebe für denselben Geschmack ausgedrückt und bestätigt, und in diesem Sinne fehlt den Fleischesser/-innen das Distinktionsmoment zu den Veggie-Gruppen. Ihre emotionale Involviertheit drücken die Fleischesser/-innen mit provokativen Fragen und verbalen Angriffen aus.
Neben der emotionalen Teilnahme bringt der Online-Austausch über Fleischersatzprodukte aber auch weitere interessante exemplifizierende Veranschaulichungsverfahren hervor, z. B. in Form von (generalisierenden) Redewiedergaben oder konzeptueller Bildhaftigkeit durch Vergleiche und Analogien.

Welche Konsequenzen bringen die Erforschung und Beschreibung der Diskurse für die Behandlung im Fach DaF/DaZ mit sich?

Suzana Vezjak: Die Einarbeitung in bzw. Beschäftigung mit für DaF/DaZ-Lernende relevante(n) Diskurse(n) kann durch die öffentliche interpersonelle Kommunikation und Gruppenkommunikation im Online-Diskurs maßgeblich erleichtert werden. Weblogs und andere Kommunikationsformen übernehmen heutzutage immer mehr Funktionen, die früher Printprodukten vorbehalten waren. Und gerade diese neuen Kommunikationsformen sind für den allgemeinsprachlichen Unterricht von großem Interesse. Nicht nur dass die Benutzung dieser Kommunikationsformen den Alltag der Generation der Digital Natives bestimmt, diese Formen können auch die Möglichkeiten des direkten Austauschs mit anderen Lernenden und Deutschsprecher/-innen enorm erweitern. Eine besondere Bedeutung haben dabei Texte und Interaktionen, die der alltäglichen Rezeptionsrealität entsprechen und auf den Erfahrungsraum der Lernenden Bezug nehmen.
Durch das Lernen am Modell und durch eine vorbereitende, dialogische Auseinandersetzung mit (argumentierenden) Kommentaren können Lernende die sprachlichen Mittel entdecken, ihre kommunikativen Funktionen analysieren, reflektieren und sie anschließend beim eigenen Schreiben erproben. Außerdem können Bewertungen eigener und fremder Handlungen sowie die Frage, anhand welcher interaktiver Positionierungspraktiken Zugehörigkeit und Differenzen konstruiert werden, mittels der Ergebnisse dieser Arbeit sinnvoll didaktisch aufbereitet werden.

Wenn Sie den derzeitigen Trend hin zu fleischloser Ernährung betrachten, welche Auswirkungen könnte dieser zukünftig auf die Online-Kommunikation haben?

Suzana Vezjak: Mit dem Thema der Nachhaltigkeit werden neue gesellschaftliche Entwicklungen bezüglich des Ernährungs- und Konsumverhaltens angestoßen.
Früher bedeutete eine vegetarische oder vegane Ernährung Verzicht auf Fleisch(geschmack). Diese Verknüpfung hat sich in den vergangenen Jahren durch verschiedene pflanzliche Ersatzprodukte verändert, wodurch das Wachstum des Fleischlos-Marktes zunahm. Die Fleischersatzprodukte haben somit die Nische verlassen und werden inzwischen von weiten Teilen der Bevölkerung gekauft.
Gleichzeitig besteht das Bedürfnis, sich durch die aktive Gestaltung von Inhalten (insb. im Internet in Foren und Blogs, auf Homepages und sozialen Netzwerkseiten etc.) am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen und die Meinung(en) über diese Produkte zu verbreiten. Die persönlichen Meinungen werden allerdings zunehmend durch den Einbezug wissenschaftlicher Studien unterstützt, die sich mit der Klimabilanz sowie gesundheitlichen Aspekten pflanzlicher Fleischalternativen beschäftigen.
Insbesondere Argumente, die sich auf wissenschaftliche Quellen stützen und weniger „missionierend“ sind, wirken dabei den kritischen und skeptischen Stimmen entgegen und können zu noch breiterer Akzeptanz der Produkte beitragen.
Essen ist ein emotionales Thema und daran wird sich wahrscheinlich auch in Zukunft nicht viel ändern. Allerdings kann die Online-Kommunikation dazu beitragen, dass fleischlos als „normal“ wahrgenommen und akzeptiert, der Konsum von Fleisch auf ein ernährungsphysiologisch ausgewogenes und zugleich klimafreundliches Maß reduziert und somit auch die Kommunikation weniger emotional aufgeladen stattfinden wird.

 Vielen Dank für dieses interessante Interview!

Zur Autorin
Suzana Vezjak ist seit September 2019 DAAD-Lektorin an der Wirtschaftsuniversität Bratislava. Sie hat Germanistik in Maribor (Slowenien) und Deutsch als Fremd- und Zweitsprache an der Universität Leipzig studiert. Sie hat langjährige DaF-Unterrichts- und Prüfungserfahrungen in der Schul- und Erwachsenenbildung aller Niveaustufen im Präsenzunterricht in Slowenien, Deutschland, Ägypten, Irak, Vietnam, Slowakei sowie in zahlreichen Blended-Learning und Online-Kontexten. Zudem leitet sie sprachwissenschaftliche Seminare und Fachkurse, insb. zu Wirtschaftsdeutsch.

Essensdiskurse online
Von: Suzana Vezjak

Sprache und sprachliches Handeln verändern sich in relevanter Weise durch die Digitalisierung und Mediatisierung. Damit ändert sich auch der Gegenstand des Sprachunterrichts: Medien und Online-Diskurse schaffen eine neue Grundlage für authentisches sprachliches Handeln im Unterricht.
Bisher fehlte es allerdings an einer systematischen, diskurslinguistischen Betrachtung von sprachlichen Mustern und Strategien in einem für den Fremdsprachenunterricht relevanten Online-Diskurs. Hier setzt diese Arbeit an: Anhand empirischer Analysen liefert die Untersuchung neue Einblicke in die interaktive Konstitution von Identität und Beziehungsmanagement auf der Grundlage eines Online-Diskurses zum Thema fleischalternativer Ernährung.
Methodisch schließt die Arbeit an zentrale Forschungslinien der Stilanalyse und Soziolinguistik sowie der gesellschaftlich orientierten Diskursanalyse nach Foucault an. Das Buch macht damit auf den Sprachgebrauch in sozialen Handlungszusammenhängen sowie auf die gruppenspezifischen Eigenheiten und Unterschiede in spezifischen medialen Umgebungen aufmerksam und zeigt didaktische Potenziale für den Deutsch als Fremdsprache-Unterricht auf.

Programmbereich: Deutsch als Fremdsprache