Sie haben folgende Möglichkeiten:
  1. zum Login.
  2. zur Navigation.
  3. zum Inhalt der Seite.

Sprache befindet sich im steten Wandel. Veränderungen geschehen dabei nicht einfach so, sondern durch aktive Spracharbeit (Foto: Brigitte Bonaposta/stock.adobe.com)
Nachgefragt bei Sarah Kwekkeboom, Dr. Birgit Herbers und Prof. Dr. Simone Schultz-Balluff

„Die neue mittelhochdeutsche Grammatik hat Maßstäbe gesetzt, die nicht mehr wegzudenken sind“

ESV-Redaktion Philologie
12.12.2022
Anlässlich des 75. Geburtstags von Klaus-Peter Wegera erscheinen im Erich Schmidt Verlag noch diesen Monat die Kleineren Schriften, gemeinsam herausgegeben von seinen Schülerinnen und ehemaligen Mitarbeiterinnen Sarah Kwekkeboom, Dr. Birgit Herbers und Prof. Dr. Simone Schultz-Balluff. Über den Entstehungsprozess der Kleineren Schriften sowie die Relevanz und Aktualität seiner Arbeit für die heutige Forschung haben wir mit Ihnen gesprochen.
Liebe Frau Kwekkeboom, liebe Frau Herbers, liebe Frau Schultz-Balluff,
Sie alle verbindet die Zusammenarbeit mit Klaus-Peter Wegera, für den Sie anlässlich seines Geburtstags am 11. Januar die Kleineren Schriften mit seinen Arbeiten von 1987 bis 2020 herausgeben. Was ist es, das die langjährige Forschungsarbeit von Klaus-Peter Wegera ausmacht?

Sarah Kwekkeboom / Birgit Herbers / Simone Schultz-Balluff: Fortschritt und Kritikfähigkeit: Klaus-Peter Wegera ist wissenschaftlich nie ‚stehengeblieben‘, sondern hat immer aktuelle Tendenzen einbezogen und Innovationen vorangetrieben. Er war – und ist noch immer – kritikfähig, was seine eigene Forschung betrifft; nicht zuletzt liegt hierin auch seine Innovationskraft.
Innovativität und Weitsichtigkeit: Forschung soll nicht nur für den Moment interessant sein, sondern auch auf lange Sicht an Aktualität und Nutzbarkeit nicht verlieren. Dabei schlug er oft neue wissenschaftliche Wege ein, wie die Nutzung von Computern für die maschinelle Auswertung sprachhistorischer Daten (heute selbstverständlich, in den 70er Jahren ein absolutes Novum).
Akribie und Genauigkeit: Klaus-Peter Wegera hat zu jeder Forschungsfrage große Mengen an Literatur recherchiert, die zu dem jeweiligen Thema geschrieben wurde und sie sämtlich ausgewertet. Jeder Beitrag, der in den Kleineren Schriften abgedruckt ist, enthält somit einen Großteil der zum Zeitpunkt der Veröffentlichung bekannten relevanten Forschungsliteratur. Außerdem wurde bei der Erstellung der Literaturverzeichnisse nicht auf Angaben aus anderer Literatur oder auf digitale Quellen vertraut; jedes Buch musste in die Hand genommen und ‚autopsiert‘ werden.


Der Titel ‚Sprachwandeln‘ soll auf den aktiven Umgestaltungswillen bei Sprache aufmerksam machen, durch den diese gewandelt wird. Dieser Begriff ist ja eher ungewöhnlich und in dem Sinne eine Wortneubildung. Wie kam es zu diesem Titel und wie zeigt sich das ‚Sprachwandeln‘ in der Arbeit von Herrn Wegera?

Sarah Kwekkeboom / Birgit Herbers / Simone Schultz-Balluff: Der von Klaus-Peter Wegera gern und häufig verwendete Begriff der ‚Spracharbeit‘ war uns – und auch ihm – zu sehr mit Mühe und Anstrengung konnotiert. Das ‚Wandeln‘, im Sinne eines aktiven Umwandelns von Sprache, trifft eher die Prozesshaftigkeit, die Sprachwandel ausmacht und die er in vielen seiner Beiträge beschreibt und analysiert. Man kann diesen Begriff aber auch auf Wegera als Wissenschaftler beziehen, denn er selbst wandelt stets mit Leichtigkeit zwischen Linguistik und Literatur und vereint philologische Genauigkeit, quantitative Berechnung und (teils auch) ungewöhnliche Perspektiven miteinander.


Die Auswahl der Texte haben Sie mit Herrn Wegera gemeinsam getroffen. Bei den allein über fünfzig veröffentlichen Aufsätzen sowie zahlreichen Monografien war die Entscheidung sicherlich nicht immer leicht. Nach welchen Kriterien haben Sie die Forschungstexte ausgewählt und zusammengestellt?

Sarah Kwekkeboom / Birgit Herbers / Simone Schultz-Balluff: Tatsächlich ist uns und Herrn Wegera die Auswahl nicht immer leichtgefallen. Gerne hätten wir noch mehr Beiträge aufgenommen, vor allem auch die unbekannteren, die nicht in Deutschland erschienen sind. An manchen Stellen haben wir uns auch spontan umentschieden und einen Beitrag ausgetauscht oder ganz weggelassen, damit das Gesamtbild der Kleineren Schriften rund wird. Die Forschungsergebnisse aller aufgenommenen Beiträge sind nach wie vor aktuell und werden noch immer vielfach zitiert. Besonders wichtig war es Klaus-Peter Wegera einen wichtigen Aufsatz aufzunehmen, der bisher in deutscher Sprache nicht erschienen war, denn die Korpusbasierte Sprachdatengewinnung (im Original von 2013 Language data exploitation) fasst einen Kernbereich seiner wissenschaftlichen Tätigkeiten im Kern zusammen. Dass dieser Beitrag enthalten sein sollte, stand folglich außer Frage; ihn in deutscher Sprache hinzuzufügen, war sein persönlicher Wunsch.


Welche Einflüsse von Klaus-Peter Wegeras Forschungsarbeit in der Linguistik, ganz besonders dem Frühneuhochdeutschen und dem Mittelhochdeutschen, zeigen sich in der aktuellen Forschung?

Sarah Kwekkeboom / Birgit Herbers / Simone Schultz-Balluff: Ganz egal, ob man sich aktuelle Veröffentlichungen zu grammatischen Fragen in historischen Sprachstufen anschaut oder an einer Tagung mit solcher Thematik teilnimmt, nahezu alle legen ihrer Forschungsfrage ein Korpus zugrunde und beschäftigen sich in der Folge mit all den Problemen, die Klaus-Peter Wegera immer wieder in seinen Forschungen aufgegriffen hat: Wie komme ich zu einem Korpus, welches zu einer bestimmten Fragestellung passt und wie kann ich die Ergebnisse in ihrer Komplexität darstellen? Die aus den von ihm mitinitiierten Projekten zu den historischen Korpora entstandenen Referenzkorpora bilden heute eine Grundlage für die Forschungsfragen vieler Sprachhistoriker:innen.
Die neue mittelhochdeutsche Grammatik, die Klaus-Peter Wegera mit seinen Kollegen Hans-Joachim Solms und Thomas Klein herausgegeben hat, und an der wir alle drei mitgearbeitet haben, hat mit ihrer Orientierung an einem Korpus von Primärquellen und der Darstellung von diachroner und regionaler Variation Maßstäbe gesetzt, die nicht mehr wegzudenken sind. Aktuelle Vorhaben wie auch die neue mittelniederdeutsche Grammatik orientieren sich daran. Klaus-Peter Wegera und seinen beiden Herausgeberkollegen ist ein neuer, sehr viel differenzierterer Blick auf die mittelhochdeutsche Sprache zu verdanken.

  Zuletzt von Klaus-Peter Wegera im Erich Schmidt Verlag erschienen:
Mittelhochdeutsch als fremde Sprache. Eine Einführung in das Studium der germanistischen Mediävistik

von Klaus-Peter Wegera, Simone Schultz-Balluff und Nina Bartsch


Mittelhochdeutsch ist keine Fremdsprache! Dennoch wird es von vielen Erstsemestern als fremde Sprache erfahren, zumal Mittelhochdeutsch im schulischen Unterricht kaum noch ernsthaft thematisiert wird. Hier setzt das vorliegende Lehrwerk an.
Neugier und Interesse für das Fach Mediävistik in seinen zahlreichen Facetten aufrechtzuerhalten und zu fördern und die Scheu vor der als fremd empfundenen Sprache und Schrift zu nehmen, sind die Ziele.
Das Mittelhochdeutsche wird unter Nutzung fremdsprachendidaktischer Methoden und Erkenntnisse erschlossen. Entsprechend dem zugrunde gelegten integrativen Ansatz wird Grammatikvermittlung nicht als Selbstzweck verstanden. Dies bedeutet die Konzentration auf die für die Lernziele relevante Vermittlung von Grammatik. Funktional eingebundene Fragen zur Texterschließung, Wortschatzübungen sowie Darstellungen und Aufgaben zur Grammatik dienen immer der Initialisierung von Lernprozessen, an deren Ende Textverstehen und Übersetzungskompetenz stehen.


Sie alle drei haben bei unterschiedlichen Forschungsprojekten, wie der „Mittelhochdeutschen Grammatik“, dem „Referenzkorpus Mittelhochdeutsch (1050-1350)“ oder dem „Referenzkorpus Frühneuhochdeutsch“ mit Herrn Wegera zusammengearbeitet. Frau Schultz-Balluff, Sie haben außerdem als Co-Verfasserin gemeinsam mit Klaus-Peter Wegera und Nina Bartsch das Lehrbuch Mittelhochdeutsch als fremde Sprache bei uns veröffentlicht, das mittlerweile bereits in vierter Auflage vorliegt. Wie haben Sie Herrn Wegera bei der gemeinsamen Arbeit erlebt? Gibt es eine Anekdote, die ihn für Sie gut beschreibt?

Sarah Kwekkeboom / Birgit Herbers / Simone Schultz-Balluff: Morgens zwischen sieben und zehn Uhr ging es am Lehrstuhl hoch her: Das war die Kernarbeitszeit für Grammatik und Lehrwerk. Als Urheber der Idee zu dem Lehrwerk (sein erstes Probekapitel, das es niemals gegeben hat, war eines zur Zwiebel!) hat er uns Mitautorinnen einen sehr großen Spiel- und Freiraum gegeben – natürlich nur neben dem, was für ihn ‚unverhandelbar‘ war. Aber auch hier war die Arbeit geprägt von einer offenen und kritikfreudigen Atmosphäre. Besonders hervorzuheben sind seine Bereitschaft und das Interesse daran, sich mit der Grundlagenvermittlung in unserem Fach auseinanderzusetzen.
Überhaupt wurde nie Zeit verschwendet. Alle Autofahrten zwischen Universität, Akademie in Düsseldorf, in den Urlaub und dem heimischen Arbeitsplatz wurden stets mit Telefonaten überbrückt. So klingelte nicht selten morgens um 6.00 Uhr im Büro ein Telefon, um Unterrichtsplanung und Besprechungen zu den Forschungsprojekten durchzugehen. Autofahrten waren immer gute Zeitfenster zur Beratung aller möglichen wissenschaftlichen und gestalterischen Fragen. Dabei war es unerheblich, wer gerade am Telefon war. Von der studentischen Hilfskraft bis zu den Mitarbeiter:innen wurde jede:r in die aktuellen Forschungsfragen am Lehrstuhl mit einbezogen. Nicht selten entwickelten sich hier neue Ideen, welcher Fragestellung wir noch nachgehen könnten oder welche Auswertung uns noch voranbringen konnte. Häufig erhielten wir dann den Auftrag, eine bestimme Sache zu ermitteln oder zu prüfen. Eine neue Idee brannte ihm immer unter den Nägeln und wir alle waren immer aufgerufen, hier mitzudenken. Gerne schnell und sofort.

Liebe Frau Kwekkeboom, Frau Herbers und Frau Schultz-Balluff, vielen Dank für dieses interessante Interview!

Zu dem Autor und den Herausgeberinnen

Klaus-Peter Wegera ist pensionierter Lehrstuhlinhaber für Altgermanistik (Sprachgeschichte und Sprachvariation) an der Ruhr-Universität Bochum. Forschungsschwerpunkte sind die historische Grammatikographie, die Sprachgeschichte des Deutschen, Deutsche Dialektologie und Deutsch als Fremdsprache. Daneben verfasste er mit Kollegen und seinen Schülerinnen Einführungen in das Frühneuhochdeutsche, in die Diachronie der deutschen Sprache und in das Mittelhochdeutsche. Zusammen mit Oskar Reichmann gab er das Frühneuhochdeutsche Lesebuch und eine Frühneuhochdeutsche Grammatik heraus. Zusammen mit Thomas Klein und Hans-Joachim Solms erarbeitet er die neue mittelhochdeutsche Grammatik auf der Basis von Handschriften.

Sarah Kwekkeboom (Akademie der Wissenschaften zu Göttingen) hat bei Klaus-Peter Wegera studiert und war langjährige Mitarbeiterin an seinem Lehrstuhl. Sie ist Mitautorin des Bands 'Flexionsmorphologie' der neuen mittelhochdeutschen Grammatik (2018) und Projektmitarbeiterin bei den Referenzkorpora Mittelhochdeutsch (1050-1350) und Frühneuhochdeutsch (1350–1650). Sarah Kwekkeboom arbeitet seit 2022 in dem Projekt „Ortsnamen zwischen Rhein und Elbe“, das von der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen getragen wird.

Birgit Herbers (Johannes Gutenberg-Universität Mainz) ist Mitautorin der beiden bisher erschienenen Bände der neuen mittelhochdeutschen Grammatik (‚Wortbildung 2009‘ und ‚Flexionsmorphologie 2018‘) und Expertin für der Aufbereitung und Auswertung von historischen Korpora (z.B. ‚Referenzkorpus Deutsche Inschriften‘). Als Lexikographin des neuen mittelhochdeutschen Wörterbuchs (MWB, seit 2011) ist Birgit Herbers eine exzellente Kennerin des mittelhochdeutschen Wortschatzes.

Simone Schultz-Balluff (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg) war Mitarbeiterin an den Projekten zur neuen mittelhochdeutschen Grammatik und zu den Referenzkorpora Mittelhochdeutsch (1050–1350) und Frühneuhochdeutsch (1350–1650). Ihre Habilitationsschrift zur ‚Wissenswelt triuwe‘ (2018) bietet auf der Basis der Referenzkorpora eine sprach-, literatur- und kulturhistorisch perspektivierte historisch-semantische Studie. Simone Schultz-Balluff hat seit 2022 den Lehrstuhl für ‚Geschichte der deutschen Sprache und älteren deutschen Literatur‘ an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg inne.

Klaus-Peter Wegera: ‚Sprachwandeln‘.
Kleinere Schriften zur deutschen Sprachgeschichte und Grammatikographie


Herausgegeben von Sarah Kwekkeboom, Birgit Herbers und Simone Schultz-Balluff


Der Band „‚Sprachwandeln‘. Kleinere Schriften zur deutschen Sprachgeschichte und Grammatikographie“ versammelt Beiträge von Klaus-Peter Wegera zu Sprachwissenschaft, Korpuslinguistik, Mediävistik sowie Kulturgeschichte. Die Beiträge, die zwischen 1987 und 2020 entstanden sind, spiegeln den Facettenreichtum von Klaus-Peter Wegeras langjähriger Forschung wider.
Die zentrale Fragestellung ist die nach dem ‚Sprachwandeln‘: Wie wird Sprache gewandelt? (nicht: Wie wandelt sich Sprache?). Sprache wandelt sich nicht selbst, sondern wird durch ihre Benutzer verändert. Sprachwandel ist dabei nicht selten Ergebnis bewusster oder gewollter Eingriffe, was auch als Spracharbeit bezeichnet werden kann. Spracharbeit wird dabei als kreativer Prozess verstanden.
Bei den Beiträgen zum Mittelhochdeutschen und Frühneuhochdeutschen stehen Fragen zur Grammatikographie und der den Grammatiken dieser Sprachepochen zugrundeliegenden Quellenkorpora im Zentrum.
Mit den vielfältigen Überlegungen zur Korpustheorie und zu Darstellungsmöglichkeiten von in den Korpora ermittelten Phänomenen und Varianten hat Klaus-Peter Wegera Maßstäbe gesetzt, an denen sich jede weitere neue Grammatik zu historischen Sprachstufen orientieren wird.

Programmbereich: Germanistik und Komparatistik