
„Es geht auch darum, sich als Pflegekraft mit einem bestimmten beruflichen Selbstverständnis darzustellen“
Liebe Simone, warum sind mündliche Prüfungen so „gefürchtet“?
Simone Amorocho: Dafür gibt es aus meiner Sicht viele Gründe. Drei Aspekte erscheinen mir zentral: Erstens sind mündliche Prüfungen in der Bildungsbiografie selten. Deshalb haben Kandidat:innen wenig Erfahrung damit, was sie erwartet. Mit anderen Worten: Ihnen fehlt das Gattungswissen. Zweitens sind mündliche Prüfungen weniger planbar als andere Prüfungsformen. Man muss spontan auf die Fragen der Prüfenden reagieren, deshalb haben viele Kandidat:innen Angst vor einem Blackout. Und gerade für Kandidat:innen mit Deutsch als Zweitsprache ist das Verstehen der Prüfendeninterventionen und das spontane Reagieren auf Fragen eine sprachliche Herausforderung. Und drittens sind mündliche Prüfungen in der Regel so organisiert, dass ein Prüfling mehreren Prüfenden gegenübersitzt. Die Kandidat:innen sind also wesentlich exponierter als in der Unterrichtsinteraktion.
Welche Rolle spielen mündliche Prüfungen im Bildungssystem in Deutschland?
Simone Amorocho: Wie bereits erwähnt, sind mündliche Prüfungen verhältnismäßig seltene Ereignisse in der Bildungsbiografie. Zugleich haben sie dort, wo sie vorkommen, häufig ein großes Gewicht, man denke etwa an das mündliche Abitur oder eben an die Abschlussprüfung in der Ausbildung. Im hochschulischen Bereich bilden mündliche Prüfungen ebenfalls einen festen Bestandteil des Prüfungskanons und stellen in großen Studiengängen zum Teil die einzige Situation dar, in denen Studierende für eine längere Zeit persönlich mit den Lehrenden interagieren.
Du beschäftigst dich mit mündlichen Prüfungen in der Pflegeausbildung. Wie siehst du die Prüfungen in diesem Kontext?
Simone Amorocho: Mündliche Prüfungen haben sowohl in der medizinischen als auch in der Pflegeausbildung traditionell einen wichtigen Stellenwert. Ihre Abschaffung stand auch bei Einführung der generalistischen Pflegeausbildung zu keinem Zeitpunkt zur Diskussion, obwohl es ja sonst grundlegende Veränderungen gab. Allerdings haben sich die Prüfungsformate mit den Reformen im Bereich der beruflichen Bildung und der damit verbundenen Orientierung am Ziel der beruflichen Handlungskompetenz verändert. So stellt die Arbeit mit Fällen ein wichtiges Instrument dar, um berufliche Handlungskompetenz zu überprüfen, denn die Kandidat:innen müssen zeigen, dass sie ihr theoretisches Wissen auf eine berufliche Problemsituation anwenden können. Da die Fälle als Texte vorliegen und es in der Regel schriftliche Aufgaben gibt, die die Bearbeitung steuern, haben die Kandidat:innen eine Vorbereitungszeit, in der sie die Fälle lesen und sich Notizen anfertigen dürfen.
Warum wurden diese Prüfungen bislang kaum erforscht?
Simone Amorocho: Ein wichtiger Grund ist sicherlich, dass die Hürden für Prüfungsaufzeichnungen allgemein hoch sind. So haben einzelne Bundesländer eine Aufzeichnung generell untersagt. Hinzu kommen dann Vorbehalte von Schulen und Prüfenden. Überraschend aufgeschlossen waren hingegen viele Kandidat:innen.
Ein weiterer Grund ist, dass die berufliche Bildung im Fach Deutsch als Zweitsprache zunächst weniger im Fokus stand als die allgemeinbildenden Schulen. Dies hat sich allerdings inzwischen stark gewandelt. Wegen des Fachkräftemangels und der Anwerbung im Ausland wird gerade der Pflege(ausbildung), aber auch der beruflichen Bildung insgesamt inzwischen deutlich mehr Aufmerksamkeit gewidmet. Dennoch ist die Forschung zu den sprachlichen Anforderungen in verschiedenen Ausbildungsgängen noch immer als lückenhaft zu bezeichnen.
Auszug aus „Mündliche Prüfungen in der Pflegeausbildung“ | 27.01.2025 |
Prüfungsgespräche sind gatekeeping-Situationen | |
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Schriftliche Prüfungen spielen in der schulischen wie beruflichen (Aus)Bildung von Anfang an eine entscheidende Rolle. Die mündliche Prüfungsform hingegen stellt eher eine Seltenheit dar und wurde auch in der linguistischen Forschung bisher wenig beachtet. Dabei kommt ihnen eine entscheidende Selektionsfunktion zu: Sie können über das Erlangen von Bildungsabschlüssen entscheiden und haben damit auch einen großen Einfluss auf die Zuweisung von sozialem Status. mehr … |
Was hast du in deiner Studie herausgefunden?
Simone Amorocho: Die Prüfungsgespräche, die ich untersucht habe, zeichnen sich – wie bereits beschrieben – dadurch aus, dass die Kandidat:innen eine Vorbereitungszeit haben, in der sie einen Fall bearbeiten und sich Notizen anfertigen dürfen. Ihre Ergebnisse präsentieren sie dann im ersten Teil der Prüfung. Das bedeutet, dass sie – im Unterschied zur Unterrichtsinteraktion – umfangreiche Gesprächsbeiträge planen und gestalten müssen. Eine solche globale Sprechplanung stellt gerade für Kandidat:innen mit beschränkten sprachlichen Ressourcen eine Herausforderung dar. Da die Prüfungen fallbezogen sind, müssen die Kandidat:innen ihr generisches Wissen auf den Fall beziehen bzw. das Problem im Fall unter Rückgriff auf ihr generisches Wissen lösen. Dabei zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen den Kandidat:innen und zwischen den Teilkorpora, die an verschiedenen Schulen aufgezeichnet wurden, im Hinblick darauf, welches Gewicht dem generischen Wissen bzw. dem Fall beigemessen wird. Auch nehmen einige Kandidat:innen die Perspektive der Pflegekraft im Fall ein, während andere das Handeln der Akteur:innen im Fall aus einer distanzierten Perspektive betrachten.
In den Prüfungsgesprächen spielen das Erklären und das Argumentieren eine zentrale Rolle, wobei die Merkmale, die ich rekonstruieren konnte, sich deutlich von denen des Alltags unterscheiden. Ich spreche deshalb von einem prüfungsförmigen Erklären und Argumentieren. Deutliche Unterschiede zeigen sich zudem zwischen den Kandidat:innen im Hinblick auf die Ausgebautheit, die Fachlichkeit und den Grad der Abstraktion der Erklärungen und Argumentationen.
Zudem unterscheidet sich die Gestaltung der Prüfungsinteraktion. So enthalten sich die Prüfenden zum Teil jeglicher Redebeiträge und überlassen den Kandidat:innen vollständig „die Bühne“. Gerade bei Kandidat:innen, die Probleme haben, die Prüfungsaufgaben zu bearbeiten, steuern die Prüfenden demgegenüber kleinschrittig die Interaktion und zerlegen beispielsweise globale Erklärgegenstände, indem sie Fragen zu Teilaspekten stellen.
Schließlich konnte ich große Unterschiede im Hinblick darauf rekonstruieren, wie sich die Kandidat:innen positionieren. Auf epistemischer Ebene präsentieren sich beispielsweise einige Kandidat:innen als angehende Expert:innen, während andere Unsicherheit im Hinblick auf das dargestellte Wissen anzeigen. Auf beruflicher Ebene gestalten die Kandidat:innen ihr berufliches Selbstverständnis unterschiedlich aus und positionieren sich damit als ein bestimmter Typ von Pflegekraft.
Eine Besonderheit meiner Studie besteht darin, dass ich bei einem Teil der Prüfungen auch die Bewertungsgespräche in die Analyse einbeziehen konnte. Diese und weitere schriftliche Dokumente habe ich genutzt, um die den Prüfungen zugrunde liegenden sprachlich-interaktionalen Normen zu rekonstruieren. Dadurch konnte ich beispielsweise zeigen, dass eine selbstständige, strukturierte Wissenspräsentation und ein gutes Zeitmanagement relevant sind. Insgesamt lässt sich festhalten, dass in den Prüfungen die berufliche Eignung überprüft wird, das heißt, dass es nicht allein darum geht, fachliche Kompetenz zu demonstrieren, sondern auch darum, sich als Pflegekraft mit einem bestimmten beruflichen Selbstverständnis darzustellen. Wer beispielsweise Wissen im „Lehrbuch-Stil“ vorträgt, hebt nicht unbedingt seine Agency als empathische Pflegekraft hervor. In dieser Anforderung scheint ein deutlicher Unterschied zu hochschulischen Prüfungen zu liegen.
Was ist dein ganz persönlicher Tipp für Prüflinge und auch Prüfende?
Simone Amorocho: In den von mir untersuchten Prüfungsgesprächen ist es für Prüflinge wichtig, sich mit dem Prüfungsformat vertraut zu machen, denn es gibt spezifische Aufgabenformate, die man gezielt trainieren kann. Verfügt man über ein entsprechendes Musterwissen, entlastet dies die Planungs- und Formulierungsprozesse in der Prüfungsinteraktion. Zudem würde ich Prüflingen raten, die Interaktion als Ressource zu nutzen. Das heißt beispielsweise, dass man bei Nicht-Verstehen einer Frage die Möglichkeit hat, nachzufragen, oder dass man durch eine Metakommentierung verdeutlichen kann, wie man eine Frage versteht. Es ist durchaus legitim, punktuell Nicht-Wissen einzugestehen, insgesamt sollten Kandidat:innen aber auf das eigene Wissen und Können fokussieren. In den Pflegeprüfungen ist es zudem zu bedenken, dass man sich zugleich als angehende Pflegekraft präsentiert. Ich würde Kandidat:innen daher empfehlen zu reflektieren, welches berufliche Selbstverständnis sie in Szene setzen, wenn sie beispielsweise eine bestimmte Perspektive auf den Fall einnehmen.
Prüfenden würde ich raten, den Kandidat:innen Raum zur Wissensdarlegung zu geben. Bei Kandidat:innen mit Deutsch als Zweitsprache, deren sprachliche Ressourcen beschränkt sind, ist es m. E. wichtig, Unterstützung anzubieten, ohne den Fragefokus zu verengen. So kann es beispielsweise hilfreich sein, eine Frage zu paraphrasieren, das Abstraktionsniveau zu verändern oder ein Beispiel zu geben, um den Einstieg in die Beantwortung einer Frage zu erleichtern.
Vielen Dank für das Interview!
Alle Informationen zum Buch, das auch als eBook Open Access erschienen ist, finden Sie hier.
Die Autorin |
Simone Amorocho arbeitet als Akademische Rätin an der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Im Jahr 2022 hat sie das Habilitationsverfahren an der Universität Leipzig abgeschlossen. In aktuellen Forschungsprojekten beschäftigt sie sich u. a. mit Anleitungsgesprächen in der praktischen Berufsausbildung und entwickelt gemeinsam mit Christian Pfeiffer eine sprachdidaktische Konzeption, die auf den theoretischen Annahmen der Konstruktionsgrammatik beruht (Konstruktionsdidaktik). |
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Mündliche Prüfungen in der Pflegeausbildung Von Dr. Simone Amorocho Mündliche Prüfungen erfüllen eine Gatekeeping-Funktion: In der Pflegeausbildung dienen sie dazu, die berufliche Eignung der Kandidatinnen und Kandidaten zu überprüfen, und regulieren so den Zugang zum Beruf. Dennoch waren sie bislang kaum Gegenstand empirischer Forschung. |
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