
„Muster helfen uns, schnell und effizient zu kommunizieren“
Simone Amorocho: Ja, in gewisser Weise sprechen wir alle in Mustern. Wenn ich jetzt beinahe automatisch gesagt hätte, das ist eine gute Frage, dann wäre das schon ein solches gewesen. Ich hätte mir ein bisschen Zeit verschafft, um die weiteren Gedanken zu sortieren, aber auch gleichzeitig zurückgemeldet, dass es eine wertvolle und interessante Frage ist. Muster helfen uns, schnell und effizient zu kommunizieren, weil wir nicht jede Äußerung ganz neu aufbauen müssen. Sprachlernenden helfen sie dadurch besonders, weil sie nicht jede Äußerung bewusst konstruieren müssen, Sprache nicht ins Detail analysieren müssen, sondern auf Versatzstücke zurückgreifen können. Ich muss z. B. die Bildung und Analyse des Konjunktiv II nicht beherrschen, um zu wissen, dass ich mit Ich hätte gerne X eine Bitte nach X formulieren kann. Hier sieht man auch schon, dass Muster eben auch Leerstellen haben können, die ich dann je nach Kommunikationsabsicht unterschiedlich füllen kann. Dies ermöglicht eine größere Flexibilität.
Andrea Ender: Muster können aber auch „versteckt“ sein: So hören Sie die Äußerung Ich niese den Einkaufszettel vom Tisch. vermutlich zum ersten Mal. Auch dieser Äußerung liegt aber ein Muster zugrunde, das Ihnen gut bekannt sein dürfte: Eine Person verursacht, dass sich ein Objekt von etwas weg oder auf etwas zu bewegt (z. B. Sie schiebt das Fahrrad in die Garage.). Eben weil Ihnen dieses Muster gut bekannt ist, können Sie auch kreative Variationen verstehen. Denn im Unterschied zu schieben drückt niesen ja eigentlich keine Bewegung aus. Vielmehr bedeutet niesen, dass jemand die Luft ruckartig durch Mund und Nase ausstößt. Wird das Verb aber in die Konstruktion mit einem Objekt (den Einkaufszettel) und einer Präpositionalphrase (vom Tisch) eingesetzt, so aktivieren wir die Bewegungsbedeutung.
Nach genau so einem Muster können wir viele verschiedene Sätze bilden, in denen die Wirkung einer Tätigkeit auf die Bewegung eines anderen Objekts dargestellt wird: Sie pfeift den Hund zu sich. Er winkt die Kinder ins Haus.
Was sind sprachliche Muster?
Simone Amorocho: Den Musterbegriff kennt man ja durchaus auch im Alltag, man denke etwa an das Schnittmuster: Wenn ich eine Hose nähen möchte, brauche ich nicht selbst einen Schnitt zu entwerfen, sondern ich kann auf eine bewährte Form zurückgreifen, die andere vor mir bereits ausprobiert und optimiert haben. Das vereinfach mein Nähprojekt. Die Idee, dass sich eine Form zur Lösung einer bestimmten Aufgabe bewährt hat, lässt sich durchaus auf sprachliche Muster übertragen: Sprachliche Muster sind also wiederkehrende Kombinationen von einer bestimmten Form mit einer mehr oder weniger konkreten Bedeutung. Wir nennen das in einer aktuellen theoretischen Herangehensweise an Sprache und Sprachgebrauch auch eine Konstruktion. Zum Beispiel ist jedes Einzelwort eigentlich eine Konstruktion: Wir verwenden eine bestimmte lautliche oder schriftliche Form, z. B. Hund, für die Vorstellung von einem bestimmten Vierbeiner, den wir hierzulande häufig als Haustier halten. Solche Muster können aber auch abstrakter sein und Leerstellen haben (z. B. je mehr X, desto Y) oder sie können auch bildlich und formelhaft sein (z. B. einen Frosch im Hals haben). All diese Fälle kann ich gut erklären, wenn ich Konstruktionen als Einheiten aus Form und Bedeutung verstehe.
Wie können sprachliche Muster uns beim Sprachenlernen helfen?
Andrea Ender: Solche Muster helfen uns beim Sprechen, Schreiben, aber auch beim Hören und Verstehen, weil sie Sprache vorhersehbar, verständlich und effizient machen. Muster bilden auf den verschiedenen sprachlichen Ebenen mehr oder weniger offensichtliche Gerüste, auf denen wir unseren Sprachgebrauch aufbauen. Beim Sprachenlernen sind sie deshalb so unglaublich hilfreich und entlastend. Ohne viel Gedanken über Grammatik zu verschwenden, kann man sich auf bestimmte Versatzstücke stützen.
Simone Amorocho: Deshalb ist es sinnvoll, Sprachlernenden frequente Wortkombinationen wie Ich hätte gern X oder Es tut mir leid zu vermitteln. Auch wenn sie noch nicht den Konjunktiv II beherrschen und noch nicht die Personalpronomen im Dativ gelernt haben, sind sie dadurch in Alltagssituationen kommunikativ handlungsfähig.
Fremdsprache Deutsch 72: Mit Sprachmustern lernen | 16.04.2025 |
Sprachen mit Mustern lernen | |
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Wie geht’s? – Danke der Nachfrage! Wie war dein Tag? Wir alle sprechen in Mustern, ob bewusst oder unbewusst. Gerade beim Lernen einer fremden Sprache können diese dabei helfen, rasch flüssig zu reden. Mit Sprachmustern im Kontext von Deutsch als Fremd- und Zweitsprache beschäftigt sich die neue Ausgabe unserer Zeitschrift Fremdsprache Deutsch. mehr … |
Sind diese Muster nur mündlich hilfreich, oder gibt es sie auch in der schriftlichen Kommunikation?
Andrea Ender: Muster können in jeder Form des Sprachgebrauchs beobachtet werden. Wir nutzen beispielsweise auch Muster, wenn wir E-Mails schreiben: Wir haben ein Set von Begrüßungs- und Dankesformeln, dann Muster, wie wir den Text strukturieren (z. B. in Problemformulierung – Lösungsvorschlag) und ihn auch abschließen und uns verabschieden. Aber auch wenn wir eine Argumentation aufbauen, Argumente gegeneinander abwägen, auf die Meinung von anderen Bezug nehmen etc., nutzen wir Muster. Wir können also auf den verschiedensten Ebenen des Sprachgebrauchs Musterhaftes entdecken.
Was sind Chunks und wie können sie hilfreich sein?
Simone Amorocho: Chunks sind ein Teil von dem, was wir eben als Konstruktionen bezeichnet haben. Als Chunk verstehen wir normalerweise eine Einheit, die zwar aus mehreren Wörtern besteht, die wir aber als ganzen Sprachbaustein abgespeichert haben. Wie geht’s dir? – Ich habe keine Ahnung. – Es tut mir leid. – Ich bin der Meinung, dass… Diese Bausteine rufen wir als Ganzes ab und daher sind solche Chunks beim Sprachenlernen zentral. Sie machen es uns möglich, nicht jeden Satz neu zu bauen, sondern auf vorgefertigte Muster zurückzugreifen. Sie können dann flüssig und passend in bestimmten Kontexten angewendet werden.
Gerade in Alltagsinteraktionen, in denen immer wieder dieselben kommunikativen Aufgaben anfallen, spielen Chunks eine zentrale Rolle. Für komplexere sprachliche Aufgaben wie das Erzählen einer Geschichte oder das Erklären von Zusammenhängen sind Chunks hingegen nicht ausreichend. Hier spielen flexiblere Muster eine größere Rolle.
Kann hiermit auch schon im Elementarbereich gearbeitet werden? Und wie?
Andrea Ender: Mit Mustern bzw. Konstruktionen kann man eigentlich mit allen Zielgruppen arbeiten. Gerade im Anfängerbereich ist die Vermittlung von Chunks wichtig, da die Lernenden dadurch schnell in Alltagssituationen sprachlich handlungsfähig werden. Auch für Gruppen, mit denen man wenig analytisch arbeiten kann oder möchte, eignet sich ein solches Vorgehen.
Und gerade Kinder lernen Sprache ganzheitlich und merken sich wiederkehrende Muster. Aber insgesamt lässt sich Lernen mit Sprachmustern in allen Lernkontexten – auch über spielerische Nachahmung und Wiederholung hinaus – sehr gut einsetzen.
Was ist euer ganz persönlicher Tipp zum Erlernen einer Fremdsprache?
Andrea Ender: Sprachenlernen soll natürlich Freude machen. Personen haben dabei andere Vorlieben, aber auch andere Rahmenbedingungen, was die Zeit oder auch den Kontakt mit Sprecher:innen der Zielsprache angeht. Mir selbst hat es eben sehr geholfen, wenn ich nicht Wort für Wort und an Regeln orientiert gelernt habe, sondern nach den wiederkehrenden Mustern gesucht habe. Ich habe das Sprechen und Schreiben von kompetenten Sprecher:innen als Vorbild genommen und mir überlegt, was sagen die für bestimmte Situationen und in bestimmten Kontexten, auch wenn ich das nicht immer mit meinem Wissen über die Sprache erklären konnte. Ich habe also versucht, bestmöglich auf sprachliche Routinen und ihre Veränderungen in bestimmten Kontexten zu achten.
Simone Amorocho: Wenn wir eine Fremdsprache lernen, müssen wir ja gar nicht alle Muster völlig neu erlernen, denn Sprachen bedienen sich zum Teil ähnlicher oder gar gleicher Muster. Wie man beispielsweise eine Geschichte erzählt, kann sich von Sprachgemeinschaft zu Sprachgemeinschaft unterscheiden, es gibt aber auch viele Gemeinsamkeiten. Die sprachlichen Muster der bereits erworbenen Sprachen für das Lernen einer Zweitsprache zu nutzen, ist daher mein persönlicher Tipp.
Vielen Dank für das Interview!
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Die Heftherausgeberinnen |
Simone Amorocho ist Akademische Oberrätin am Institut für deutsche Sprache und Literatur der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Konstruktionsdidaktik, sprachliche und interaktionale Anforderungen in der beruflichen Bildung, informelles Sprachenlernen und angewandte Gesprächsforschung. Andrea Ender ist Universitätsprofessorin für Germanistische Linguistik mit Schwerpunkt Deutsch als Fremd- und Zweitsprache am Fachbereich Germanistik der Universität Salzburg. Ihre Forschungsgebiete sind Spracherwerb, besonders Deutsch als Zweitsprache, Erwerb von Variation, Sprachvariation in Dialektgebieten, sprachliche Bildung, Mehrsprachigkeit und mentales Lexikon. |
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Fremdsprache Deutsch Heft 72 (2025): Mit Sprachmustern lernen Heftherausgeberinnen: Simone Amorocho, Andrea Ender Muster zu erkennen und sie produktiv einzusetzen ist zentral für das Erlernen einer Sprache. Deshalb spielen der Input und die Einbettung in bedeutungsvolle Interaktion eine zentrale Rolle. |
Programmbereich: Deutsch als Fremdsprache