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Widerstand gibt es in vielen Formen (Foto: Xaver Klaussner/stock.adobe.com)
Nachgefragt bei Prof. Dr. Yixu Lü, Dr. Kylie Giblett und Dr. Brangwen Stone

„Widerstand ist immer auch ein Akt der Interpretation“

ESV-Redaktion Philologie
27.11.2025
„Widerstand“ ist ein vielschichtiger, allgegenwärtiger und stets relevanter Begriff. Es gibt den aktiven und passiven Widerstand, Widerstand kann individuell oder kollektiv organisiert sein. Der neue Band der Reihe Transpositionen setzt sich mit Widerstand in der deutschsprachigen Literatur und Kultur des 20. und 21. Jahrhunderts auseinander und betrachtet das Konzept als ästhetische, ethische und politische Praxis. Dabei ist die Frage zentral, wann Literatur widerständig wird – und für wen. Wir haben mit den Herausgeberinnen dieses Buchs gesprochen.
Liebe Frau Lü, Frau Giblett und Frau Stone, zum Start direkt eine zwar kurze, aber doch grundlegende Frage: Was bedeutet Widerstand?

Yixu Lü, Kylie Giblett, Brangwen Stone: In der Physik bedeutet „Widerstand“ ganz einfach: Eine Kraft trifft auf eine Gegenkraft. Nichts bewegt sich, ohne dass ihm etwas entgegensteht. Diese Idee, dass Bewegung und Gegenbewegung zusammengehören, passt erstaunlich gut zum gesellschaftlichen Verständnis von Widerstand.
Übertragen auf die menschliche Gesellschaft meint Widerstand all jene Kräfte, die sich gegen herrschende politische, soziale oder ideologische Ordnungen richten. Und das muss nicht immer Protest sein. Widerstand zeigt sich oft viel leiser: im Innehalten, im Nicht-Mitmachen und im Beharren auf einer anderen Sichtweise. Er kann öffentlich oder im Privaten stattfinden.
In der Literatur begegnet uns Widerstand in besonders vielfältiger Weise. Texte stellen Widerstand nicht nur dar, sondern sie können selbst Akt des Widerstands sein. Literarischer Widerstand entsteht dort, wo Sprache, Figuren oder irritierende Perspektiven gewohnte Wahrnehmungen herausfordern, wo Geschichten dominante Deutungen infrage stellen bzw. ästhetische Verfahren Routinen aufbrechen.

Geht es in der Publikation nur um politischen Widerstand, oder gibt es auch andere Arten?

Yixu Lü, Kylie Giblett, Brangwen Stone: Nein, in unserem Band geht es bewusst nicht nur um politischen Widerstand. Ein zentrales Anliegen des Projekts ist es zu zeigen, wie vielfältig und vielschichtig Widerstand in der Literatur sein kann.
Die literarische Darstellung von politischem Widerstand spielt selbstverständlich eine wichtige Rolle in unserem Band. Aber viele Beiträge zeigen, dass sich Widerstand auch in ästhetischen oder emotionalen Formen ausdrücken kann, z. B. in einem ungewöhnlichen Erzählstil, in ironischen Brechungen oder in Momenten des Innehaltens, die gängige Denkmuster hinterfragen.
Wir untersuchen daher auch den ästhetischen Widerstand, wo die Form gegen Konventionen arbeitet, den subjektiven oder affektiven Widerstand, etwa das Nicht-Mitmachen oder ein inneres Sich-Entziehen, den kulturellen und erinnerungspolitischen Widerstand, z. B. gegen vereinheitlichte Deutungen der Geschichte, und die medialen und institutionellen Formen des Widerstands, wie er in Lehrwerken, im Dokumentarfilm oder im akademischen Diskurs auftaucht.
Insgesamt versuchen wir zu zeigen, dass sich Widerstand nicht nur in politischen Handlungen, sondern auch in Sprache, in ästhetischer Form und in Erinnerung und Interpretation zeigt, also überall dort, wo ein Text eine andere Perspektive eröffnet oder eine dominante Ordnung infrage stellt.

Denken Sie, dass Widerstand in der BRD und der DDR aufgrund der Geschichte der Länder anders thematisiert wird als in anderen Ländern? Z. B. in Australien, wo Sie leben?

Yixu Lü, Kylie Giblett, Brangwen Stone: Widerstand wird in Deutschland aufgrund seiner historischen Erfahrungen anders gedacht und bewertet als in vielen anderen Ländern. Die Art und Weise, wie in Deutschland über Widerstand gesprochen wird, ist stark von der Doppelgeschichte des 20. Jahrhunderts geprägt: dem Nationalsozialismus und der SED-Diktatur. 
In der Bundesrepublik standen lange solche Fragen im Vordergrund wie z. B.: Wie verhalte ich mich angesichts von Schuld, Mitläufertum und moralischer Verantwortung? In der DDR hingegen wurde Widerstand häufig für ein offizielles antifaschistisches Selbstverständnis instrumentalisiert.
Australien hat eine andere historische Ausgangslage. Es kennt kein totalitäres Regime in der eigenen Geschichte. Hier sind Diskussionen über Widerstand eher mit Themen wie indigenem Widerstand gegen Kolonisation, struktureller Ungleichheit und Fragen kultureller Zugehörigkeit verknüpft. 
 
Wie wählten Sie die Beiträge für den Band aus?

Yixu Lü, Kylie Giblett, Brangwen Stone: Die Idee für den Band entstand aus einer internationalen Konferenz, die wir 2023 an der University of Sydney zum Thema Widerstand veranstaltet haben. Viele der Teilnehmer:innen wollten die Diskussion weiterführen und sie einem größeren Publikum zugänglich machen. Das war der Ausgangspunkt für das Buch.
Bei der Auswahl der Beiträge haben wir uns von zwei Leitgedanken lenken lassen:

1. Vielfalt der Perspektiven
Der Band sollte ein möglichst breites Spektrum an Formen literarischen Widerstands abbilden. Deshalb enthält er Studien zu sehr unterschiedlichen Textsorten und Epochen: von der Weimarer Republik zur Gegenwart, von Märchen bis Dokumentarfilm, von politischer Publizistik bis zu postmigrantischen Erinnerungskulturen.

2. Konzeptionelle Kohärenz
Trotz dieser Vielfalt teilen die Beiträge ein gemeinsames Interesse: zu zeigen, wie Literatur und andere Medien Widerstand artikulieren und reflektieren. Wir haben also gezielt Beiträge ausgewählt, die auf unterschiedliche Weise deutlich machen, wie sich Widerstand als ästhetische, ethische und gesellschaftliche Praxis denken lässt.

Auszug aus: „Widerstandsfigurationen in deutschsprachigen Literaturen und Medien“ 26.11.2025
Formen des literarischen Widerstands zwischen Ästhetik, Ethik und Politik
„Widerstand“ gehört zu den ältesten Themen der literarischen Gestaltung und auch im Alltag ist er als soziale Praxis allgegenwärtig. In einer Zeit, in der soziale und ökologische Krisen weltweit eskalieren und Unsicherheit und Polarisierung ständig wachsen, wird die Auseinandersetzung mit Widerstand immer relevanter. Der neue Band aus der Reihe „Transpositionen“ beschäftigt sich interdisziplinär mit den Formen Widerstands in der deutschsprachigen Literatur und Kultur des 20. und 21. Jahrhunderts. Zentral ist dabei die Frage: Wann wird Literatur widerständig? mehr …

Der Band ist in drei thematische Sektionen unterteilt: 1. Politische und moralische Widerstandsgesten, 2. Subversive Ästhetiken und figurativer Eigensinn und 3. Erinnerung, Vermittlung und kritische Selbstvergewisserung. Was verbirgt sich hinter dieser Dreiteilung?

Yixu Lü, Kylie Giblett, Brangwen Stone: Unsere Dreiteilung folgt der Idee, dass Widerstand in der Literatur auf ganz unterschiedlichen Ebenen und in dynamischen, oft widersprüchlichen Formen sichtbar wird. Widerstand ist kein monolithischer Begriff, sondern ein Geflecht politischer, ästhetischer und kultureller Praktiken. Die drei Sektionen spiegeln daher drei Perspektiven wider, die sich ergänzen und miteinander verschränken.

1. Politische und moralische Widerstandsgesten
In diesem Teil geht es um Texte, die sich direkt mit politischen Machtverhältnissen auseinandersetzen, etwa mit dem Nationalsozialismus, der Weimarer Republik oder aktuellen Debatten über Erinnern und Vergessen. Hier steht Widerstand als bewusste Haltung im Mittelpunkt: als moralische Entscheidung, als politisches Engagement oder als literarische Selbstbehauptung angesichts von Repression, Gewalt oder ideologischen Zumutungen.

2. Subversive Ästhetiken und figurativer Eigensinn
Der zweite Teil zeigt, dass Widerstand nicht immer laut oder eindeutig ist. Viele Autoren und Autorinnen arbeiten mit leisen Formen der Subversion wie z. B. Ironie und erschaffen Figuren, die sich Erwartungen entziehen. Hier erscheint Widerstand als Eigensinn, als ästhetische Abweichung, und als Störung von Routinen, oft subtil, dennoch wirkungsvoll.

3. Erinnerung, Vermittlung und kritische Selbstvergewisserung
Der dritte Teil richtet den Blick auf die Frage, wie Widerstand erzählt und vermittelt wird.
Dazu gehören Darstellungen in Lehrwerken, pädagogisches Vorgehen im Unterricht, und auch wissenschaftliche Selbstreflexion: Wer erinnert? Wie wird Widerstand tradiert? Wer definiert, welche Stimmen gehört werden? In diesem Teil wird deutlich, dass Literatur immer in institutionelle, pädagogische und erinnerungskulturelle Kontexte eingebettet ist.

Gibt es ein Fazit, dass Sie aus dem Sammelband ziehen können?

Yixu Lü, Kylie Giblett, Brangwen Stone: Ja. Wenn man die Beiträge zusammenliest, wird deutlich, dass Widerstand kein fest umrissener Begriff, sondern ein kontextabhängiges Feld ist.
Mehrere Einsichten kann man aus den Beiträgen gewinnen:
  • Widerstand zeigt sich nicht nur in großen Taten, sondern oft in kleinen Gesten: in Zweifeln, in Brüchen und im Infragestellen von Gewissheiten.
  • Literatur schafft Räume, in denen solche Gesten sichtbar und erfahrbar werden.
  • Widerstand ist immer auch ein Akt der Interpretation: Was als widerständig gilt, hängt von gesellschaftlichen Debatten, historischen Kontexten und kulturellen Erwartungen ab.
Zusammenfassend kann man sagen, dass Widerstand kein abgeschlossenes Konzept, sondern eine kulturelle Praxis ist, die wir ständig neu verhandeln. Gerade in einer Zeit wachsender gesellschaftlicher Spaltungen, geopolitischer Spannungen und ökologischer Krisen ist das Nachdenken über Widerstand besonders wichtig.

Welche Werke, in denen literarischer Widerstand thematisiert wird, liegen Ihnen persönlich besonders am Herzen?

Yixu Lü, Kylie Giblett, Brangwen Stone: Ein Werk, das uns besonders am Herzen liegt, ist Peter Weiss’ Die Ästhetik des Widerstands. Dieser Roman verbindet politische Geschichte und ästhetische Reflexion und zeigt, wie Kunst zum Widerstandsort werden kann. Für Weiss ist Widerstand ein intellektueller und ästhetischer Prozess zugleich, und genau das macht das Werk so kraftvoll.
Ein zweites Werk, das uns persönlich sehr wichtig ist, ist Heinrich von Kleists Trauerspiel Penthesilea. Hier begegnet uns Widerstand in seiner radikalsten Form. Penthesilea widersetzt sich kompromisslos den gesellschaftlichen Verpflichtungen, die über ihr Leben, ihre Leidenschaft und ihre Identität bestimmen sollen. Sie zerstört die Ordnung, die sie zu disziplinieren versucht, bevor sie sich selbst mit Gedanken tötet. Radikaler kann man den Widerstand kaum denken. 
Beide Werke zeigen auf ganz unterschiedliche Weise, wie weit Literatur den Begriff des Widerstands sowohl politisch als auch existenziell treiben kann, und gerade diese Bandbreite macht den literarischen Widerstand für uns so bedeutend.


Sind Sie neugierig geworden? Dann haben Sie zwei Möglichkeiten: Lesen Sie einfach direkt weiter, über unsere Plattform ESV-Open können Sie den Titel bequem herunterladen. Sie lesen lieber klassisch ein Buch? Dann können Sie das Buch hier oder in Ihrer Buchhandlung erwerben.

Zu den Herausgeberinnen
Kylie Giblett ist Dozentin für Germanic Studies in der School of Languages and Cultures der University of Sydney. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Geschichte und Gedächtnis in der zeitgenössischen deutschen Literatur und Recht und Rechtsphilosophie in den Werken zeitgenössischer deutscher Dichterjurist:innen.
Yixu Lü ist McCaughey Professor of Germanic Studies in der School of Languages and Cultures der University of Sydney. Ihre umfangreiche Publikationen befassen sich mit Heinrich von Kleist, der deutsch-chinesischen Kulturbegegnung im Kontext des Kolonialismus sowie der Rezeption antiker Mythen in der deutschen Literatur.
Brangwen Stone ist Chair von Germanic Studies in der School of Languages and Cultures der University of Sydney. Sie interessiert sich besonders für transnationale Literatur und transnationales Theater, Translation Studies, Gender Studies und das Verhältnis der Literatur zu Erinnerung und Geschichte.

Widerstandsfigurationen in deutschsprachigen Literaturen und Medien / Figurations of Resistance in German-language Literature and Media

Herausgegeben von: Yixu Lü, Kylie Giblett, Brangwen Stone

Ein interdisziplinärer Band über Formen des literarischen Widerstands zwischen Ästhetik, Ethik und Politik. Im Zentrum steht die Frage: Wann wird Literatur widerständig – und für wen?
Das Buch widmet sich dem Thema Widerstand in der deutschsprachigen Literatur und Kultur des 20. und 21. Jahrhunderts. Die Beiträge untersuchen Widerstand als ästhetische, ethische und politische Praxis in vielfältigen Formen: von Lyrik über Roman und Film bis hin zu Lehrwerken.
Im Zentrum steht die Frage nach dem Kern eines literarischen Widerstands:
- Kann Literatur selbst als Akt des Widerstands verstanden werden?
- Wann wird ein Text widerständig – durch Form, Inhalt, Wirkung, oder erst durch seine Rezeption?
Der Band eröffnet neue Perspektiven auf das Verhältnis von Literatur, Kritik und gesellschaftlicher Verantwortung.

Programmbereich: Germanistik und Komparatistik